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Bundesteilhabegesetz: Quantensprung oder Sparpaket?

Seit dem 26. April liegt der Referentenentwurf für das Bundesteilhabegesetz vor – noch in diesem Jahr soll er verabschiedet werden. Es ist seit der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes in den 1960er Jahren das erste Gesetz dieser Art für Menschen mit Behinderung in Deutschland. Wird es den rund zehn Millionen Menschen, die hierzulande von Behinderung betroffen sind, das Leben spürbar leichter machen? Ein Gespräch mit Rainer Rißmann, Referent Soziale Teilhabe im Diakonischen Werk Hamburg.

War die Diakonie an der Entstehung des Gesetzentwurfs beteiligt?
Rainer Rißmann: Die Wohlfahrtsverbände, die die Träger repräsentieren, konnten sich mit ihren Argumenten in diesem Prozess nur sehr begrenzt einbringen. Beteiligen konnten sich vor allem die Betroffenen mit ihren Verbänden und Initiativen und haben das auch intensiv wahrgenommen. Die Frage ist, inwiefern ihre Forderungen Eingang in das Gesetz gefunden haben. Wesentliche Beiträge, wie ein von einer Gruppe ausgewiesener Experten vorgelegter Alternativentwurf, blieben komplett unberücksichtigt. Hier nehme ich einige Ernüchterung auf Seiten der Aktivisten wahr.

 

Wie lesen Sie diesen Gesetzentwurf?
Die Überarbeitung des Entwurfs ist so frisch, dass wir alle noch dabei sind, die über 300 Seiten durchzuprüfen. Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild. Ich finde gut an diesem Gesetz, dass es Sonderformen weiter abbaut. So wird das Wohnen in einer eigenen Wohnung oder in einer betreuten Wohngemeinschaft bevorzugt gegenüber dem Leben in einer stationären Einrichtung. Das Gesetz ist stärker am Individuum und seiner Gestaltung eigener Lebensentwürfe orientiert. Es entstehen außerdem mehr Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterstützt zu arbeiten. Das ist zu begrüßen! Die individuellen Vermögensfreibeträge der einzelnen Leistungsberechtigten – also die persönlichen Rücklagen, die nicht angetastet werden dürfen, wenn ich zum Beispiel persönliche Assistenz benötige – werden deutlich angehoben. Allerdings wurde die Forderung, auf die individuelle finanzielle Beteiligung ganz zu verzichten, nicht umgesetzt.

 

Wie ergeht es den Menschen mit Behinderung, die weniger ausdauernd arbeiten können?
Hier bleibt die Schwelle hoch. Laut Gesetz müssen Menschen mit Behinderung ein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen. Wer beispielsweise aufgrund einer seelischen Behinderung keine kontinuierliche Arbeitsleistung erbringen kann, hat so gut wie keine Chance, im Bereich der geförderten Arbeit eine Stelle zu finden. Wir kennen viele Menschen, die genau an diesem Punkt immer wieder scheitern. Hier gab es viel Kritik. Trotzdem ist dieses Ausschlusskriterium im vorliegenden Entwurf unverändert geblieben.

 

Wird zukünftig durch das Gesetz mehr Geld für Menschen mit Behinderung zur Verfügung stehen?
Vermutlich nicht. Obwohl alle Experten sich einig sind, dass Inklusion Geld kostet, ist hierfür kein zusätzlicher Etat in Sicht. Das Gesetz ändert grundlegend die Finanzierung der Leistungen für Menschen mit Behinderung. Bisher wird die Eingliederungshilfe komplett aus Steuermitteln finanziert. Das neue Gesetz entlastet durch eine Verschiebung von Leistungen in die Pflegeversicherung die öffentlichen Haushalte, sie müssen zukünftig deutlich weniger Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung finanzieren. Es geht dabei um eine Summe von mehreren Milliarden Euro, die stattdessen über Leistungen aus der Pflegeversicherung kommen werden. Wahrscheinlich steuern wir da auf eine Beitragserhöhung zu.

 

Ändert sich etwas an der Sicht auf Behinderung?
Rainer Rißmann: Interessanter Punkt. Wir haben darüber intensiv mit Juristen diskutiert. Das Sozialgesetzbuch (SGB) XII, die bisherige Grundlage für die Eingliederungshilfe, geht von der Menschenwürde aus und bezieht sich damit auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Im Gesetzentwurf ist dagegen von Selbstbestimmung und Verantwortung die Rede. Das klingt erst einmal gut, aber es gibt Fachleute, die fürchten, dass das Recht auf Teilhabe damit gewissermaßen tiefer gehängt wird, weil die Verankerung in den Grundrechten wegfällt. Das ist eine Veränderung, die wir noch genau anschauen müssen! Was bedeutet das konkret für die Betroffenen? Bisher war es so, dass der Leistungsanspruch eintritt, wenn der Leistungsträger (die Kommune) davon erfährt, dass ich Leistungen brauche. Konkret konnte also der Mitarbeiter beim Behördentermin für mich direkt tätig werden. Beim neuen System gibt erst dann eine Leistung, wenn dies von den Leistungsberechtigten selbst beantragt wird. Was heißt das für einen Menschen in einer chronischen psychischen Krise? Unsere Befürchtung ist, dass das neue Verfahren für viele nachteilig ist. Einfach weil sie Leistungen, auf die ein Anspruch bestünde, nicht beantragen. Eine gute Idee hingegen ist die Einrichtung von unabhängigen Beratungsstellen. Der Beratungsbedarf ist jetzt schon groß. Wenn das gut gemacht wird, wäre das ein Fortschritt.

 

Das Gesetz definiert auch die Grenzen von Teilhabe und Pflege neu...
Ja, und ich finde im neuen Entwurf einen Unterschied zum Arbeitsentwurf aus dem Dezember. Wir haben jetzt einen Abschnitt, der im Zusammenwirken mit Regelungen des Pflegestärkungsgesetzes pflegebedürftige Menschen mit Behinderung aus den Teilhabeleistungen ausnimmt. Wenn ich in einer Einrichtung lebe, die bisher als Teil der Eingliederungshilfe auch Pflegeleistungen erbracht hat, wie es z. B. in einem Großteil der Hamburger ambulanten Wohngemeinschaften der Fall ist, dann kann es in Zukunft sein, dass ich Leistungen ausschließlich über einen Pflegedienst erhalte oder sogar umziehen muss. Das widerspricht der Idee von Teilhabe. Sie geht davon aus, dass ich als Mensch das Recht habe, die Leistungen dort zu bekommen, wo ich bin. Man kann sich leicht ausmalen, was so ein erzwungener Umzug für den einzelnen bedeutet! Und der Wechsel in die Leistungen der Pflegeversicherung ist insgesamt problematisch. Es ist zu befürchten, dass damit das blockiert wird, was gerade in Hamburg mit viel Einsatz und Vertrauen auf verbesserte Teilhabeleistungen seit Jahren läuft – der sogenannte Ambulantisierungsprozess.

Viele Aspekte der Teilhabe sind nicht erfüllbar über die Pflegeversicherung mit ihrem geschlossenen Leistungskatalog und ihrem Charakter der „Teilkaskoversicherung“. Und bei Teilhabe geht es immer auch um Lernprozesse. Also nicht nur darum, dass ich die Morgentoilette bekomme. Vielmehr übt jemand mit mir, das zukünftig selbst zu machen oder es möglichst lange selbst machen zu können. Diese inhaltliche Zielstellung müsste für die Pflege überhaupt erst entwickelt werden.

 

Was verändert sich für die Träger der Eingliederungshilfe in der Diakonie?
In der Diakonie beobachten und diskutieren wir dieses Gesetzesvorhaben schon eine ganze Weile und haben bereits damit begonnen, uns auf die sich abzeichnenden Veränderungen vorzubereiten. Wir führen den Bereich der Eingliederungshilfe und der ambulanten Pflege stärker zusammen. Unsere Träger der Eingliederungshilfe gründen entweder eigene Pflegedienste oder kooperieren. Mit dem Gesetz werden zusätzliche Kontrollen eingeführt, die sicherstellen sollen, dass die vereinbarten Leistungen tatsächlich erbracht werden. Der bürokratische Aufwand für die Leistungserbringer steigt – ob die Qualität ebenfalls steigt, ist fraglich. Zusätzlich wird ein Preiswettbewerb ausgelöst. Das Gesetz liest sich so, als würden Anbieter bevorzugt, deren Preise sich im unteren Drittel des Marktes bewegen. So könnte eine Abwärtsschraube auf Kosten der Qualität entstehen. Das wäre sicher nicht im Interesse der Betroffenen und auch nicht im Sinne der aktuellen Diskussion über die Anwendung von Tarifverträgen.

 

Wie geht es weiter?
Jetzt haben wir eine kurze Frist von wenigen Wochen, um im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege gemeinsam auf den Entwurf zu reagieren. Natürlich werden wir diese Möglichkeit intensiv nutzen. Wir vertreten dabei die Interessen der Träger der Eingliederungshilfe innerhalb der Diakonie und fordern zugleich im Rahmen der diakonischen Sozialanwaltschaft Nachbesserungen für die vom Gesetz betroffenen Menschen. Vielleicht sind noch Veränderungen im Detail möglich. Auf politischer Ebene ist jedoch zu erkennen, dass man das Gesetz in dieser Form verabschieden will. Wir erleben hier Einvernehmen der Länder und des Bundes. Das Bundesteilhabegesetz wird vermutlich mit einem ersten Teil zum 1.1.2017 in Kraft treten, die übrigen Teile sukzessive bis 2020.

Hintergrund
In Deutschland leben über 10 Millionen Menschen mit einer Behinderung – im Durchschnitt jeder achte Deutsche. Rund 7,5 Millionen Menschen sind schwerbehindert. Gemäß Angaben des Statistischen Bundesamtes erhielten im Jahr 2014 rund 860.500 Menschen mit wesentlicher Behinderung Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. Insgesamt wurden dafür 15 Milliarden Euro aufgewendet. Die Leistungen der Eingliederungshilfe umfassten damit mehr als die Hälfte (57 Prozent) der gesamten Sozialhilfeausgaben im Jahr 2014. (Angaben des Statistischen Bundesamtes, mehr dazu auf www.diakonie.de).

Tanno Brysinski, Diakonie Hamburg

Tanno Brysinski

Ev. Arbeitsgemeinschaft Eingliederungshilfe & Referent Soziale Teilhabe
Diakonisches Werk Hamburg
Königstraße 54
22767 Hamburg